Als Toni Blauvogel den Tod eines ehemaligen Klassenkameraden untersucht, stößt sie auf etliche Ungereimtheiten: Warum besitzt ein kleiner Bankangestellter so viel Geld? Wer ist die geheimnisvolle Frau an seinem Grab? Wie kann ein Auto plötzlich explodieren?
Gibt es einen Zusammenhang mit dem geplanten Neubau der Ruhrcity-Bank am Duisburger Innenhafen? War es Unfall oder Mord? Die Essener Privatermittlerin begibt sich in ihrem vierten Fall auf die Suche nach den Hintergründen. Dabei gerät nicht nur ihr Seelenfrieden beträchtlich in Gefahr. Erst als ihr Freund Max mit ihrem Wagen schwer verunglückt, sieht sie plötzlich glasklar.
Warum ich dort war, konnte ich gar nicht mal genau sagen. Aber irgendwie war mir vollkommen klar gewesen, dass ich herkommen musste, obwohl ich ihn doch vor mehr als achtundzwanzig Jahren aus den Augen verloren hatte.
Als ich die Kirche betrat, sprang mir sofort Ines ins Auge, klein und mollig, wie sie auch früher schon gewesen war. Und Gerda, unverkennbar Gerda mit ihrer Adlernase und den üppigen Lippen. Schräg hinter ihr Matthes mit immer noch dichtem, vollem
Haar, das ehemals flammend rot, nun allerdings vollständig ergraut war. Dann einige mir unbekannte Menschen. Aber dort vorne in der zweiten Reihe am Rand, da stand Barbara, die dunklen Haare rattenkurz geschnitten und damit erstaunlicherweise irgendwie noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Und der Kerl neben ihr, der sich gerade zu ihr hinüberbeugte?
Augenblicklich erinnerte ich mich an einen ganz spezifischen Geruch und hielt unwillkürlich die Luft an. Nicht, dass ich ihn direkt in der Nase gehabt hätte, diesen Geruch. Aber die Erinne-
rung war wieder da: Die Cordjacke, die er immer getragen hatte. Ich hinter ihm, hinten auf seiner Vespa, die Hände an seinen Hüften, so, wie er es mir gezeigt hatte. Dicht vor mir diese Cordjacke, die mittelbraune, direkt vor meiner Nase. Der leichte Muff darin hatte etwas Körperliches, Animalisches. Nicht unangenehm. Überhaupt nicht unangenehm, sondern eigentümlich spezifisch. Ganz wunderbar spezifisch. Wie gern hätte ich damals mein Gesicht an den Rücken vor mir geschmiegt, an diese Cordjacke, mich versenkt in diesen eigentümlich spezifisch an-
genehmen Muff. Aber ich hatte mich nicht getraut. Klar, dass er sich auch jetzt wieder an Barbara anwanzte. War schon immer so gewesen. Barbara. Schöne, flippige Barbara. Die Luft, die ich die ganze Zeit angehalten hatte, entwich jetzt unangenehm laut mit einer Art Zischen wie bei einem Ballon. Abrupt wandte ich mich ab.
Scheiße, Blauvogel. Stehst hier herum und wühlst in Erinnerungen. Kein Wunder. Ist ja auch Kurtis Beerdigung. Und Kurti, der gehört nun mal zu früher. Da erinnert man sich eben. Vorne be-
gann ein Geistlicher in einem bodenlangen Talar zu sprechen. Priester oder Pfaffe? In was für einer Kirche war ich hier eigentlich? Pfaffe vermutlich, denn das Gewand war schwarz. Die Katholen, die waren doch farbenfroher, oder? Oder nicht bei Beerdigungen? Weiß der Teufel. Ich kannte mich da nicht aus.
... von uns gegangen ... gutherzig ... Mann voller Tatkraft ... seinen Prinzipien treu geblieben ...
Kurti? Prinzipien? Der hatte doch früher immer nur gejammert, dass keiner ihn so richtig mochte. So richtig richtig. Dabei hat-
ten wir ihn alle gern gehabt, ihn, unseren Klassenclown. Die Orgel setzte ein. Ein Choral, tragisch und majestätisch zugleich. Noch ein Gebet, dann die Segnung, ein Kreuz über dem Sarg geschlagen. Und wieder die Orgel. Finale? Ja. Denn um mich herum geriet die Trauergemeinde langsam in Bewegung. Aufbruch zum letzten Geleit. Auch ich erhob mich. Eine schmalbrüstige Frau in dunklem Kostüm folgte als Erste dem Sarg durch die Mittelreihe. Sehr blond. Sehr zart. Ziemlich jung. Sie blickte sich hilfesuchend um, taumelte leicht, als würde sie gleich zu-
sammenbrechen. Und neben ihr plötzlich schon wieder er. Verwirrt sah ich weg, den imaginären Duft von Cordjackenmuff in der Nase.
Ich mag Beerdigungen nicht. Sie führen mir meine eigene Vergänglichkeit vor Augen. Und trotzdem war ich da. Sah in filmischen Schnitten, wie in Schwarzweiß. Ein langer Weg zwischen Bäumen, Gräber zur Rechten wie zur Linken. Vor mir eine Reihe dunkel gekleideter Menschen. Männer. Frauen. Ganz vorne der Sarg, getragen von Männern in schwarzem Frack. Lei-
chenbestatter. Seltsamer Beruf. Sie trugen mit Würde. Ließen den Sarg herab mit weiß behandschuhten Händen. Jemand schluchzte laut auf und unterdrückte es augenblicklich wieder. Ich versuchte, die Schluchzende ausfindig zu machen, und entdeckte sie schließlich etwas abseits, die Augen versteckt hinter einer großen Sonnenbrille, das Gesicht halb verborgen im Schatten eines dunklen Herrenhutes aus Filz, unter dem rötliches Haar hervorquoll. Ihre Tränen gruben Furchen in die etwas zu dick aufgetragene Schicht Puder. Also doch jemand, der
ihn geliebt hatte, so richtig richtig. Mensch Kurti, na also! Die Grube wurde nun gefüllt mit Erde. Dunkler, feuchter Erde. Mich schauderte, als ich das dumpfe Plopp hörte, mit dem der schwere Mutterboden nass auf dem Sarg aufschlug. Nicht mal Blumen hatte ich. Was für Blumen hätten das auch sein können für Kurti, den Klassenclown? Eine bunte, lustige, die hätte wohl gepasst. Ein Papageienschnabel vielleicht. Daran jedoch hatte ich nicht gedacht. Also stand ich nur kurz an der Grube. Mochte dem dumpfen Plopp nicht noch ein weiteres hinzufügen. Ihn mit
klumpiger, lehmiger Erde bewerfen. Nein. Erde auf Kurti werfen mochte ich nicht, Beerdigung hin, Beerdigung her.
Nun bring halt mit Anstand zu Ende, was du begonnen hast, Blauvogel! Ich seufzte und gab mir einen Ruck. Reihte mich ein in die Schlange der Kondolierenden, die an der kleinen Gruppe ernster, schwarz gewandeter Gestalten vorbeischritt. Die Schluchzende befand sich nicht darunter. Ich schüttelte Hände. Auch die der Blonden, Zarten, Jungen. Murmelte »Bin mit ihm zur Schule gegangen, war ein echt netter Kerl, der Kurti, hatte
immer einen Scherz auf den Lippen«, und kam mir bescheuert vor, während ich das aussprach. Ich hob den Kopf und begegnete seinem blaugrauen Blick, düster verhangen wie ein Novemberhimmel. Er hielt sich im Hintergrund schräg hinter der Blonden, als wollte er sie beschützen. Wie sollte denn das bloß gehen ohne seine Cordjacke?
»Hallo Volker«, sagte ich verlegen. »Lange nicht gesehen.«
»Toni.« Mehr nicht. Nur dieses »Toni.«
Ich zuckte mit den Schultern. Hielt für einen kurzen Augenblick
dem Blaugrau seines Novemberhimmelblickes stand und ging dann zügig weiter. Am schmiedeeisernen Tor holte mich Ines ein. »Kommst du nicht mit zum Essen?«, fragte sie. Leichenschmaus? Igitt! Ablehnend schüttelte ich den Kopf.
»Schade«, sagte Ines. »Hier, meine Karte.« Sie drückte mir eine Visitenkarte in die Hand. Ines Trautwein, Accountmanagerin, stand darauf zu lesen.
Sie schien auf etwas zu warten. Auf einen Kommentar? Accountmanagerin bist du also? Respekt! Hast es ja ganz schön
weit gebracht. Oder darauf, dass ich im Gegenzug meine Karte zücken würde? Accountmanagerin? Ha! Hier. Nimm dies: Dr. Dr. Dipl. Ing. von und zu ... Touché! Karte gegen Karte, so läuft das doch heutzutage. Ohne Karte bist du nichts. Auf dieses blöde Spiel mochte ich mich aber nicht einlassen.
»Hab keine«, sagte ich also und grinste spöttisch. »Bin einfach nicht so wichtig.« Ines lief rot an. »Du hast dich überhaupt nicht verändert«, sagte sie leise. Leise auch der Vorwurf in der Stimme. Und die Unsicherheit. War das wirklich so? Hatte ich mich
nicht verändert? Ich will es nicht hoffen. Jung und dumm, das war ich damals.
»Keine Ahnung«, sagte ich nur und zuckte mit den Schultern. Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Eines der bedrückenden Art.
»Melde dich doch mal.« Ines lächelte schüchtern. »Warum sind bloß so viele von uns hier?«
»Keine Ahnung«, sagte ich nun schon zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit. »Ich weiß es nicht«, versuchte ich zu vari-
ieren und dachte: Und warum bist du hier? Doch ich fragte nicht. Schwieg stattdessen erneut.
»Es ist ein so seltsam merkwürdiges Ende für Kurti ...« Ines zupfte die Jacke über ihrer drallen Figur in Form. Sie schien zu frieren.
»Ja«, antwortete ich schroff. »Das stimmt.« Und dachte, dass sie verdammt recht hatte. Damit ließ ich sie stehen.
Kurt Türauf
hantiert mit fremdem Geld und stirbt einen unschönen Tod.
Bettina Türauf
will wissen, warum ihr Vater sterben musste.
Gerda, Ines und Matthes
sind alte Freunde und erinnern Toni an früher.
Barbara Wheelers
ist immer noch schön und reichlich chaotisch.
Volker Schlosser
ist Tonis Jugendliebe und sorgt mächtig für Unruhe.
Mike aus Kupferdreh
kennt sich auch gut mit Autos aus.
Dr. Behrends
leitet die Ruhrcity-Bank und schöpft im Vollen.
Lydia Herzkamp
bricht Herzen und steigt die Karriereleiter schnell hinauf.
Giorgio
schnappt viel auf und heißt eigentlich gar nicht Giorgio.
Schiller
kann nichts wegwerfen und vergisst keinen einzigen Vers.
Irina Kruzsca
fürchtet sich und bleibt lieber im Verborgenen.
Onkel Gerhard
heißt wie der Exkanzler und kann sich nicht mehr erinnern.
Holger Schönlein
ist ein hohes Tier bei der Stadt und hat noch höhere Ambitionen.
Miroslaw Zirkow
ist Architekt und will was vom großen Kuchen abhaben.
Pietr Matzek
hat eine dunkle Vergangenheit und schlagkräftige Argumente.
Heiko König
ist Tonis neuer Kollege und sehr hilfsbereit.
Bea Hellebrosch
ist klüger, als Toni glaubt, und trinkt einen über den Durst.
Reinhold Schütte
kann in diesem Fall nichts tun.
Max Schulze
arbeitet zu viel und hat Glück im Unglück.
Toni Blauvogel
hat Urlaub und taucht tief in die Vergangenheit ein.
Ursula Sternberg: Innenhafen (Buchumschlag)
Ursula Sternberg
Innenhafen
ISBN 978-3-75340-636-7
Verlag: Books on Demand
Neuauflage Januar 2021. Preis: 9,99 €
(Neuauflage der gleichnamigen Originalausgabe emons 2011)
Taschenbuch. 282 Seiten
Ab März 2021 auch wieder als E-Book erhältlich
Im assoverlag Oberhausen sind die Kriminalromane Insolvenzgeld, Ruhrschnellweg und Variationen der Wahrheit erschienen.
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Ab Januar 2021 sind die Kriminalromane Ruhrbeben, Innenhafen und Nachtexpress in einer Neuauflage als BoD erhältlich.
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