Ein Obdachloser wird schwer misshandelt im Nachtexpress aufgefunden und liegt seitdem im Koma. In derselben Nacht verschwindet die Essener Schülerin Bella spurlos. Als Privatermittlerin Toni Blauvogel gebeten wird, das Mädchen zu suchen, weiß sie zunächst nicht, wo sie anfangen soll.
Im Umfeld des Mädchens lassen sich keine Hinweise darauf finden, was mit ihr passiert sein könnte. Allerdings halten Bellas drei Freundinnen mit etwas hinter dem Berg, da ist sich Toni sicher. Doch erst ein Schulaufsatz, den Bella kurz vor ihrem Verschwinden geschrieben hat, bringt Toni auf die richtige Spur: Bellas Verschwinden und der Fall des misshandelten Mannes im Nachtexpress haben nämlich einiges miteinander zu tun.
Friedhelm Görske gähnte verstohlen hinter vorgehaltener Hand. Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Noch eine halbe Minute. Ein flüchtiger Blick in den Rückspiegel: Der Bus war nun fast leer. Nur ein Mann noch, dort hinten in der vorletzten Reihe. Ein ganzer Schwung Fahrgäste war eben ausgestiegen. Fast alles Kids. Dass die um diese Uhrzeit noch unterwegs sein durften, erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue. Seine Eltern hätten ihm das früher nie und nimmer erlaubt. Schließlich war es knapp zwei Uhr in der Früh. Ein weiterer
Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk sagte ihm, dass die fahrplanmäßige Abfahrtzeit erreicht war. Friedhelm Görske setzte den Bus leise schaukelnd in Bewegung. Der Fahrgast hinten im Bus schaukelte mit. Er schlief. Sein Kopf hing nach vorne und bewegte sich sanft im Rhythmus der Bodenwellen. Die ganze restliche Fahrt. Auch an der Endhaltestelle blieb er sitzen. Friedhelm Görske überlegte flüchtig, ob er ihn wecken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Abgerissen hatte er ausgesehen, der Mann, und etwas schmuddelig. Und kalt war
ihm gewesen. So kalt, dass seine Hand gezittert hatte, als er das Geld auf die schwarze Ablage gelegt hatte, sorgsam abgezählt in kleinen Münzen. Sicher ein Obdachloser. Die wurden auch immer jünger. Ich lass ihn schlafen, den armen Kerl, dachte er. Bezahlt hat er ja schließlich. Ob er noch eine weitere Runde mitfährt, kann mir doch scheißegal sein. Die EVAG wird dadurch gewiss nicht ärmer.
Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war. Wieso war es so fürchterlich dunkel? RWE-Pimmel abgefackelt? Oder Stromausfall und deshalb keine Lichter mehr, die aus dem Turm in mein Schlafzimmer leuchteten? Dann fiel es mir wieder ein. Umzug. Adlerhorst gegen Erdhöhle. Mein neues Zuhause. Ich spitzte die Ohren. Spionierte die unbekannten Geräusche aus. Lauschte dem Atem des Hauses, in dem ich nun wohnte. Aber ich hörte nichts. Absolut nichts. Kein Wasserrauschen durch schlecht abgedämmte Rohre, das das Aufstehen irgendwelcher Früh-
schichtler oder Frühaufsteher aus Überzeugung begleitete. Kein Motorgeräusch. Keine entfernten Stimmen, obwohl wir doch mitten in der Stadt waren. Unnatürlich war das, eine solche Stille. Ein Giftanschlag, dem die Anwohner dieses Viertels zum Opfer gefallen waren? Eine Epidemie, die alle dahingerafft hatte? Der Kühlschrank in der Küche sprang an. Dankbar lauschte ich dem monotonen Brummen. Ein vertrautes Geräusch, auch wenn mir der Kühlschrank lauter zu sein schien als in meinem Domizil am Isenbergplatz. Ehemaliges Domizil, verbesserte ich mich.
Wahrscheinlich aufgewühlt durch das Geschaukel. Hieß es nicht, man müsse einen Kühlschrank erst mal mindestens einen halben Tag lang stehen lassen nach einem Transport, ohne ihn einzuschalten? Damit sich die Kühlflüssigkeit beruhigen kann, die durchgeschockelte? Natürlich hatte ich nicht gewartet und sinnierte nun darüber nach, ob ich ihn wohl damit kaputt gemacht hatte. Der Kühlschrank schüttelte sich heftig und das Brummen hörte auf. Die merkwürdige Stille hatte mich wieder im Griff. Grabesstille. Totenstille. »Sei nicht albern«, sagte ich
laut. Meine Stimme hallte unnatürlich in dem noch weitgehend leeren Raum. »Du hast schon oft in diesem Haus übernacht, direkt in der Wohnung nebenan.« Aber nicht ohne Max, sagte meine innere Stimme. Und die Terrassentür steht offen. Was, wenn jetzt einer vom Garten aus einfach in mein Zimmer kommt? Jetzt reicht es aber, Blauvogel! Du hast über sechs Jahre in einem Haus geschlafen, in dem sich ansonsten nur Anwalts- und Arztpraxen befinden. Da warst du wirklich allein. Hier nicht! Aber da habe ich ganz oben gewohnt. Unten war die
Haustür immer abgeschlossen. Und eine offene Balkontür im fünften Stock macht gar nichts! Max liegt direkt nebenan. Ohr an Ohr sozusagen. Nur eine Wand ist dazwischen, versuchte ich meine innere Stimme zu beruhigen. Warum habe ich ihn bloß weggeschickt, ich dumme Kuh, ausgerechnet in der ersten Nacht, jammerte sie weiter. Damit von vorneherein klar ist, dass es getrennte Wohnungen bleiben, Dummerchen. Genau. Blöde Prinzipienreiterei! Ein Rascheln in der Ecke ließ mich hochfahren. Ich spähte angestrengt ins Dunkel. Dann hörte ich das
leise Tappen von Pfoten auf den Holzdielen und lache erleichtert. »Bonnie? Clyde?«, fragte ich in die Dunkelheit hinein. Ein leises Maunzen. Also Bonnie. Sie war in allem so viel zarter als ihr Bruder. Ich war gerührt, dass sie mich gleich in meiner ersten Nacht besuchte, so, als sei es ganz selbstverständlich, dass ich nun hier wohnte. »Bonnielein, Süße«, lockte ich und klopfte einladend mit der Hand aufs Bett. Sie kam bereitwillig. Knetete eine Weile mit spitzen Milchtritten die Bettdecke und schmiegte sich schließlich schnurrend an meinen Bauch. Nichts ist so be-
ruhigend wie leises Katzenschnurren, dachte ich zufrieden. Kurz darauf schlief ich wieder ein.
(...)
Angela Brissano war eine Frau von herber, südländischer Strenge. Mit ihrer dunklen Kleidung, den straff aus dem Gesicht gebundenen blauschwarzen Haaren und den ausdrucksstarken dunklen Augen über einer etwas zu lang geratenen, leicht gebogenen Nase weckte sie bei mir Assoziationen an eine schwar-
ze Witwe in einem Film über die sizilianische Mafia. »Bitte entschuldigen Sie mein Aussehen«, sagte ich. »Ich bin gerade mitten im Umzug, und die Kleider sind größtenteils noch verpackt.« »Das ist doch nicht wichtig. Danke, dass Sie trotzdem gekommen sind.« Ihr herzliches Lächeln milderte die Strenge und machte sie attraktiv. Äußerst attraktiv, fand ich. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« »Cappuccino bitte.« Ich lächelte zurück. »Den bereiten Sie doch bestimmt nicht mit Sahne zu.« »Aber nein!« Ich sah mich um, während sie hinter der Theke
zwei Cappuccini machte. »War hier nicht früher ein Grieche?«, fragte ich, als sie mit den Tassen auf einem Tablett zurückkehrte. »Das ist richtig. Wir haben das Bellissimo erst vor knapp zwei Jahren aufgemacht«, bestätigte sie. »Mein Mann Guiseppe und ich.« »Aber Sie sind schon länger in Deutschland, scheint mir. Ich wünschte, ich könnte so gut Italienisch, wie Sie Deutsch sprechen.« »Seit über zwanzig Jahren«, sagte sie bescheiden. Ich nippte an meinem Cappuccino. Er war heiß und stark. »Ihre Tochter ist also verschwunden«, eröffnete ich schließlich das
Gespräch, wegen dem ich hier war. »Ja.« Sie schniefte einmal kurz auf. »Unsere Bella. Schon fast zwei Tage!« »Wie alt ist sie denn?« »Fünfzehn.« Angela Brissanos dunkle Augen füllten sich mit Tränen. »Und es kann wirklich nicht sein, dass sie einfach nur zu einer Freundin gegangen ist und vergessen hat, Bescheid zu sagen?« »Dort habe ich natürlich überall angerufen. Keine ihrer Freundinnen hat Bella seit Samstagnacht gesehen.« Ich registrierte, dass Bella offensichtlich der Name der Tochter war, keine Koseform. »Auf welche Schule geht sie denn?« »Auf das
Maria-Wächtler-Gymnasium.« »Das ist in Rüttenscheid, richtig?« »Ja. An der Rosastraße. Sie ist dort auf dem bilingualen Zweig. Sie möchte Sprachen studieren. Später als Dolmetscherin arbeiten oder als Übersetzerin, vielleicht auch im auswärtigen Dienst.« Scheint sehr zielbewusst zu sein, das Mädchen, dachte ich. Mit fünfzehn hatte ich keine so klaren Vorstellungen davon, womit ich mir später meine Brötchen verdienen wollte. »Hat Ihre Tochter kein Handy?« »Doch, natürlich. Aber da geht nur die Mailbox ran.« Angela Brissano schluchzte erneut auf. Kurz
und trocken. »Erzählen Sie mir etwas über Bella«, bat ich. »Was macht sie denn so in ihrer Freizeit?« »Sie trainiert regelmäßig in einem Selbstverteidigungskurs für Mädchen. Mittwochnachmittags.« Gut, dachte ich. Das ist wenigstens etwas beruhigend. »Und sonst?« »Natürlich trifft sie sich mit Freundinnen, mal bei uns zu Hause, mal umgekehrt. Manchmal gehen sie abends ins Kino. Oder sie gehen tanzen. Aber nur am Wochenende.« Angela Brissanos Lippen zitterten, und ich wartete geduldig, bis sie sich wieder gefasst hatte. »Ab und zu hilft sie auch bei uns im
Restaurant aus. Wenn eine Bedienung kurzfristig ausgefallen ist, zum Beispiel. In den Schulferien auch häufiger, vor allem im Sommer, wenn wir draußen ein paar Tische stehen haben. Verstehen Sie mich nicht falsch.« Sie hob die Hände in einer flehentlichen Geste. »Wir verlangen das wirklich nur im Notfall von ihr. Sie soll eine unbeschwerte Jugend haben. Aber sie verdient sich in den Ferien gerne was dazu. Sie ist ein gutes Mädchen.« Ich sah, wie ihr wieder die Tränen in die Augen traten, und legte begütigend eine Hand auf ihren Arm. »Sie sagten, sie
ginge ab und zu tanzen. Wissen Sie, wo?« »In einer Jugenddisco im Jugendzentrum Rübe. Bella tanzt leidenschaftlich gerne.« »Jungs?« Angela Brissano schüttelte zögernd den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Sie hat eine Reihe von Freunden, fast alle von ihrer Schule, darunter natürlich auch ein paar Jungen. Aber ich wüsste nicht, dass sie sich für einen von ihnen näher interessieren würde.« »Obwohl das in ihrem Alter natürlich ganz normal wäre.« Sie lächelte traurig. »Wir leben hier ja nicht hinter dem Mond.« »Wann genau ist sie verschwunden?« »Samstagnacht.
Sie war aus am Abend, sie wollte wieder in die Rübe, hat sie erzählt. Als wir vom Restaurant nach Hause kamen, war es gegen zwei Uhr früh. Wir hatten an dem Abend eine Geburtstagsgesellschaft, die ziemlich in Feierlaune war. Bella war noch nicht da, obwohl sie eigentlich direkt nach Hause kommen sollte. Die Disco geht bis Mitternacht.« »Kam es öfter vor, dass Bella später als verabredet nach Hause kam?« »Sie ist ein gutes Mädchen«, wiederholte Angela Brissano. Es klang, als wolle sie sich an dem Gedanken festhalten. »Sie ist immer da, wenn wir von
der Arbeit kommen.« »Wann schließen Sie denn im Regelfall das Restaurant am Wochenende?« »Wenn die letzten Gäste gegangen sind.« Sie sah mich etwas hilflos an. »Also, an Wochenenden ist das selten vor Mitternacht.«
Bodo Herzog
fährt Nachtexpress und kommt zu Tode.
Bella Brissano
ist noch sehr jung und spurlos verschwunden.
Sandra, Gudrun und Mareike
sind Bellas beste Freundinnen und wissen mehr, als sie sagen.
Theo Krummholz
fährt lieber Roadrunner als Nachtexpress und betreut auffällige Jugendliche.
Frank Zöllinger
ist Redakteur und macht sich jünger, als er ist.
Hanno Helm
hat ein Geheimnis und rückt nicht damit raus.
Tierpfleger Eberhard
sieht mehr, als man ihm zutraut.
Lasse
ist obdachlos und sehr nett.
Familie Brissano
ist verzweifelt und sucht Hilfe.
Max Schulze
denkt strukturiert und schafft den Durchbruch.
Toni Blauvogel
zieht gerade um und gibt trotzdem Gas.
Ursula Sternberg: Nachtexpress (Buchumschlag)
Ursula Sternberg
Nachtexpress
ISBN 978-3-75289-967-2
Verlag: Books on Demand
Neuauflage Januar 2021. Preis 7,99 €
(Neuauflage der gleichnamigen Originalausgabe emons 2010)
Taschenbuch. 204 Seiten
Ab März 2021 auch wieder als E-Book erhältlich
Im assoverlag Oberhausen sind die Kriminalromane Insolvenzgeld, Ruhrschnellweg und Variationen der Wahrheit erschienen.
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Ab Januar 2021 sind die Kriminalromane Ruhrbeben, Innenhafen und Nachtexpress in einer Neuauflage als BoD erhältlich.
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