Ein Kommissar der Europäischen Kommission wird erschlagen. Sein Mund ist mit Käse verstopft, und über der Leiche befindet sich der Leitspruch einer Demonstration gegen eine geplante Gesetzgebung der Europäischen Kommission, die die Herstellung von Rohmilchkäse stark einengt.
Was haben die deutsche Käsehändlerin, der intellektuelle Käsebauer und seine Kompagnons, der einsame Feinschmecker, der Berater des französischen Agrarministers, die abtrünnige Ehefrau und der suspendierte Mitarbeiter des Toten mit der Sache zu tun? In einzelnen Rückblenden werden aus Sicht der genannten Personen die letzten Wochen vor dem Mord aufgerollt, und ein ewig schlecht gelaunter Kommissar mit einem drohenden Magengeschwür ermittelt in diesem Fall nicht ganz unparteiisch. Deshalb und aus vielen anderen Gründen mischen sich die agierenden Personen immer mehr in die Ermittlungen ein und präsentieren lauter kleine Variationen der Wahrheit.
Den heftigen Schlag registrierte er eher durch das damit verbundene hässliche Geräusch, als dass er ihn spürte. Über dem rechten Ohr getroffen wurde Harald von der Wucht des Hiebes nach vorne geschleudert, knallte hart auf die Knie auf und spürte den Stoff seiner Hose reißen. Auf den Handballen schlidderte er über das Kopfsteinpflaster, kleine Steinchen bohrten sich unter die nachgebende Haut. Oh Gott, verdammt... Instinktiv versuchte er sich hoch zu rappeln, wobei ihn der Schmerz verzögert, dafür aber umso intensiver erreichte. Blitz-
artig breitete er sich vom Schädel bis tief in den Rücken hinunter aus. Ihm wurde übel. Etwas Warmes rann über sein Gesicht, verschleierte seine Augen, vermischte sich mit Tränen. Ich sehe ... ich kann ...ich kann nicht mehr sehen... Panisch krabbelte er auf allen Vieren, wahllos eine Richtung einschlagend, bloß weg, weg! Der zweite Schlag traf ihn am Hinterkopf. Nun spürte er nichts mehr.
Missmutig betrachtete der Commissaire die Szenerie. Der Schädel eingeschlagen. Schöne Sauerei. Widerwillig streifte Geouffre sich ein Paar Gummihandschuhe über. Neben ihm ließ sich die Gerichtsmedizinerin in die Hocke nieder. Aufmerksam begann sie zu schnüffeln. »Irgendwas riecht hier seltsam«, stellte sie schließlich fest. »Ich rieche nichts», sagte Geouffre aggressiv. Ein dumpfes Grollen aus seinem Magen erinnerte ihn daran, dass er wie üblich nicht dazu gekommen war, vernünftig zu essen. »Doch, es riecht streng hier«, beharrte die Ärztin. Sie
beugte sich noch dichter an den Toten heran. »Irgendwie nach Käse, nach einem dieser Stinkekäse, die immer so den Kühlschrank verpesten.« Hastig erhob sich Geouffre aus der unbequemen Position. Er wendete sich unauffällig beiseite, blies prüfend in die vorgehaltene Hand und schnupperte. Ein unangenehmes Gemisch von Latex und Hungermagen schlug ihm entgegen. Resigniert fischte er ein Pfefferminzdrops aus seiner Jackentasche. Ich bin doch Franzose, Herrgott noch mal! Immer dieser Fastfood- Mist. Von wegen gemütliche Mittagessen in
kleinen Bistros, französischer Lebensstil ... verdammter Job!
»Haben Sie das hier an der Wand gesehen, Commissaire? Es fällt erst mal nicht sehr auf, deshalb - aber es ist noch frisch. Obwohl, richtige Farbe scheint das nicht zu sein.« Miesepetrig ging Geouffre zu dem Mann von der Spurensicherung hinüber. Die Schmiererei in dünnen, krakeligen Buchstaben an der Mauer war in der Tat leicht zu übersehen. »La bureaucratie, elle tue nos fromageries!«, buchstabierte er. »Die Bürokratie ruiniert unsere Käseherstellung.« Ein frisch gesprühter Spruch über der frisch
gemordeten Leiche eines Kommissars der Europäischen Union.
30. September
Anna liebte die Rotschimmelkäse nicht. Stinker, allesamt wüste Stinker. Hatte man sie im Kühlschrank, traf einen jedes Mal fast der Schlag, sobald man die Tür öffnete, und man begann unweigerlich, nach einem verfaulten Lebensmittel zu suchen. Aber das war noch nicht alles. Schmecken taten die Biester nur, wenn man sie auf Zimmertemperatur brachte, natürlich keine beson-
dere Eigenschaft dieser speziellen Art, sondern eine für fast jeden Käse gültige Regel. Die Rotschimmelkäse jedoch entfalteten sich bei Zimmertemperatur zu wahren Raumverpestern, die unweigerlich Assoziationen an Schlafsäle, Schweißfüße und ungewaschene, feuchte Socken weckten. Es erforderte immer wieder eine ungeheure Abstraktionsleistung, fand Anna, ein solches Monstrum von der Rinde zu befreien und es sich in den Mund zu schieben. Denn es ging ja noch weiter! Um die dünne Rinde abzuschälen, musste man den Käse irgendwie fixieren. Benutzte
man dazu eine Gabel, haftete der weiche Matsch hartnäckig daran. In dem Bemühen, Messer und Gabel von der klebrigen Masse zu befreien, geriet man irgendwann unweigerlich doch in Hautkontakt mit dem Zeug. Und wenn man dann nicht sofort aufstand und sich die Finger wusch, richtig schrubbte mit heissem Wasser und viel Seife, dann haftete der Geruch an der Haut und man verteilte ihn - nicht daran denkend - beiläufig auf den Kleidungsstücken, hinterließ die Stinkspur im Gesicht, hinter den Ohren oder wo man sonst gerade noch so hinfasste. Nein, sie
liebte diese Rotschimmelkäse nicht. Aber wurde einem das seltene Glück zuteil, dass einem jemand ein Brot mit Rotschimmelkäse, der Rinde sorgsam entledigt, fertig aufbereitet kredenzte, entpuppten sie sich als wahre Gaumenfreude, mild, cremig, sahnig mit ausgeprägt individueller und in der Regel sehr köstlicher Geschmacksnote. Das musste schon ein heftig mächtiges Gefühl sein, philosophierte Anna, wenn einem in einer heißen Nacht, wenn der eine Hunger gestillt war und der andere sich unweigerlich Bahn brach, ein solches Brot dargeboten würde.
Sie jedenfalls wäre zu so etwas wirklich nur in ganz vertracktem seelischem Zustand fähig, sprich, sie müsste schon närrisch vor Liebe sein, um ein solches Opfer zu bringen. Aber vermutlich wüsste das keiner zu würdigen. Doch, Hugo natürlich. Hugo wüsste das sehr wohl zu würdigen. Belustigt lächelte sie, denn Hugo in einer solchen Liebesnacht überstieg einfach ihr Vorstellungsvermögen.
Harald Schreiber
liebt Frauen, Geld und Anzüge. Von Käse hat er keine Ahnung, von Gesetzen um so mehr. Wegen eines dieser Dinge verliert er sein Leben.
Renate Schreiber
hat die Liebe neu entdeckt und findet Geld nicht wichtig, solange es vorhanden ist. Käse ist für sie kein Thema.
Anna Mandinsky
hat Angst vor der Liebe und liebt ihre Ruhe. Käse mag sie in allen Variationen.
Wolfgang Ackermann
liebt im Verborgenen und verliert seinen Job. Ihm ist Käse ziemlich egal.
Marcel Fouchard
macht sich um Liebe keine Gedanken und stolpert hinein. Er macht den Käse, den andere lieben.
Frauke Burger
weiß einiges von der Liebe und noch mehr von der Freundin. Natürlich isst sie Käse, aber auch eine ganze Menge mehr.
Hugo Rouvillion
liebt den Käse und kann sich an die Liebe nicht mehr erinnern.
Commissaire Geouffre
liebt nicht einmal sich selbst und hasst seinen Job. Welchen Käse man ihm auftischt, sollte man sich besser sehr genau überlegen.
Ursula Sternberg: Variationen der Wahrheit (Buchumschlag)
Ursula Sternberg
Variationen der Wahrheit
ISBN 978-3-938834-27-5
assoverlag Oberhausen
Erschienen September 2007. Preis 12,90 €
Taschenbuch. 280 Seiten
Im assoverlag Oberhausen sind die Kriminalromane Insolvenzgeld, Ruhrschnellweg und Variationen der Wahrheit erschienen.
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Ab Januar 2021 sind die Kriminalromane Ruhrbeben, Innenhafen und Nachtexpress in einer Neuauflage als BoD erhältlich.
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